best before

Unser aller Leben ist zeitlich begrenzt, das ist uns klar. Aber über das Sterben macht man sich im Normalfall dennoch keine Gedanken. Erst im hohen Alter setzt man sich mit diesem Thema auseinander.
Selbst wenn man in den Nachrichten von einem Flugzeugabsturz erfährt oder in der Zeitung von einem Attentat liest, ist es eine Sekunde lang “furchtbar” aber im nächsten Moment tangiert es einen nicht mehr, denn die Menschen waren einem unbekannt. Nie im Leben würde man ernsthaft annehmen, dass man selbst frühzeitig sterben könnte. Das ist auch gut, denn würde jeder Mensch damit rechnen bald zu sterben, würde man keiner Ausbildung nachgehen, nicht auf seine Gesundheit/ Ernährung achten, man würde sich keine Ziele stecken und keine Lebenspläne schmieden. Aber was wenn man gezwungen ist darüber nachzudenken? Wenn ein Familienmitglied, ein Mensch, dem man sehr nahe steht, die Diagnose Krebs erhält? Was, wenn man plötzlich selbst vom Schicksal betroffen ist? Jeder Mensch geht anders damit um aber wirklich realisieren kann man es lange nicht. Es fühlt sich eher an wie ein schlechter Witz, wie ein Alptraum aber irgendwie wacht man nicht auf…

Seit meine Mutter mit dieser furchtbaren Diagnose lebt, ist es als hätte sie ein Verfallsdatum auf der Stirn kleben, wie eine Packung Milch im Supermarkt, die mit einem ”best-before-date” beschildert ist. Und jeder, der die Milch betrachtet, weiss wie lange sie im Durchschnitt hält. Es ist schwierig damit umzugehen, vor allem als Tochter und an manchen Tagen ist es sogar unerträglich. Man wacht in der Früh auf und fühlt diese Traurigkeit, es ist, als würden 100 schwere Ziegelsteine aufs Herz drücken und es zermalmen. Dann liegt man im Bett und weint bitterlich und bemitleidet sich selbst und wünscht sich das Leben zurück, das man zuvor hatte. Man möchte am liebsten die Zeit zurückdrehen und einmal wieder einen ganz normalen Alltag erleben, ein Alltag mit Pseudoproblemen, Pseudoängsten, Pseudosorgen. Aber das geht nicht, also muss man stark sein, nach dem Motto “hinfallen, aufstehen, Krone richten und weitergehen”. Und dann ist man wieder dankbar für die Zeit, die man noch gemeinsam erleben darf. Die Ansprüche an das Leben sinken bzw. verlagern sich. Statt sich an einer neuen Markentasche zu erfreuen oder dem Drang auf einer tollen Party eingeladen zu sein, wird ein gemeinsamer Spaziergang durch den Park zum schönsten Gefühl.

Doch viele tragen einen persönlichen “Schicksals-Rucksack”. Nur weil man nicht ein Verfallsdatum auf der Stirn trägt, heisst es nicht, dass man vom Schicksal verschont wird. Wir leben nun, wie gesagt, schon 2 Jahre mit der Diagnose und alleine in dieser Zeit habe ich immer wieder Geschichten erfahren, die das Blut in meinen Adern gefrieren haben lassen, sei es die Geburt eines behinderten Kindes, ein schrecklicher Autounfall, der eine halbe Familie ausgelöscht hat, ein plötzlicher Todesfall eines wunderschönen, jungen Mädchens. Ist das fair? Hat das einen Sinn? Und so frage ich mich, ob es besser ist, wenn man sich darüber bewusst wird, dass das Leben endlich ist und es vielleicht aus diesem Grund doppelt und dreifach genießt. Denn trotz eines Verfallsdatums im Gesicht kann man andere Menschen überleben, die einen Moment zuvor noch gesünder, jünger oder auch glücklicher waren als man selbst. Und selbst ein langes Leben ist kein Garant für ein glückliches Leben. Denn es ist nicht die Länge eines Lebens, die es lebenswert macht, sondern die Fülle an schönen Momenten, jene Momente, in denen man so herzhaft lacht bis man weinen muss, jene Momente, die alle Probleme relativieren.

Das eigene Leid ist für jeden Menschen am schlimmsten, doch in Relation zum Leid in der Welt ist es bloß relativ. Trotzdem ist es schwer sich mit gewissen Dingen abzufinden. Es ist ein langer Prozess und auch weinen und verzweifeln ist OK aber man muss eine Balance finden, eine Balance zwischen Trauer und Kampfgeist.

#fcukcancer