Als ich am Montag am frühen Morgen verschlafen und betrübt aus meinem Fenster in die Welt hinausblickte, war meine Stimmung ebenso düster wie der Anblick, der sich mir bot. Der grau-schwarze Himmel war Ton in Ton mit der Straße und die einst farbenfrohen Wiesen und Bäume waren nur noch mit einer eintönigen, dünnen Schneeschicht bedeckt. Der goldene, nicht enden wollende Herbst war nun schlagartig vorüber und der Winter endgültig eingebrochen. Und gleich wurde mir klar, was das bedeutet. Der erste Schnee, der erste Winter, ohne dich! Ich habe zwar in den vergangenen Wochen jegliches Zeitgefühl verloren – denn Minuten fühlen sich längst wie Stunden, Stunden wie Tage, Tage wie Wochen und Wochen wie Jahre an – doch dieser Blick aus dem Fenster versetzte mir einen Schlag. Die knallharte, abgebrühte Realität schlug der tapsigen, naiven Taubheit mit voller Wucht ins Gesicht.
Dieser erste Jahreszeitenwechsel ohne dich lässt nun die Uhren wieder lauter ticken und macht gewiss, dass es kein Alptraum war, dass alles real ist und die Erde sich fortan ohne dich weiterdrehen wird. Genau 6 Wochen ist es nun her, seit du (voraus-)gegangen bist, aber im Herzen fühlt es sich manchmal an wie eine halbe Ewigkeit. Ein Blick aus dem Fenster war genug und ich war zurück im Hier und Jetzt. Neben dem ausbreitenden Schmerz wurde auch der imaginäre blaue Fleck in meinem Gesicht Zeuge des brutalen Wachrüttelns. Die Realität ist manchmal wahrlich eine knallharte, herzlose Verbrecherin und Unruhestifterin! Mein Zeitbezug war jedenfalls sofort wiederhergestellt und ich spürte wieder diesen Stich in meinem Herzen, den Stich der Endgültigkeit – den Schmerz der Endlichkeit. Nichts fühlt sich so hoffnungslos, unerträglich, grausam und auch so realistisch und unausweichlich an wie dieser eine Schmerz!
Der Nebel der Taubheit, der Empfindungslosigkeit, wandelte sich in Sekundenschnelle in ungetrübte Eiseskälte, ausbreitende Leere, tiefste Dunkelheit und unfassbaren Schmerz um. Und dann, kurz bevor ich zu erfrieren drohte, der Schmerz mich beinahe bewusstlos machte, die Leere mich aufzusaugen schien und ich mich in der Dunkelheit zu verlieren fürchtete, spürte ich plötzlich deine Wärme wie eine schützende Decke um meinen Körper gewickelt. Und dann sah ich ein helles Licht, das mir den Weg aus der Finsternis zeigte. Dieses Licht strahlte so viel Wärme und Geborgenheit aus und füllte mein geschwächtes, gebrochenes Herz mit Liebe, mit Lebenswillen und mit Kraft.
Und seither weiß ich, dass du doch irgendwie da bist. Du bist gar nicht so fern – im Gegenteil, du bist ganz nah, nur eben anders, nicht mehr greifbar, nicht sichtbar. Und wenn ich meine Augen schließe und die irdische Welt mal für einen Augenblick ausblende, kann ich dich vor meinem inneren Auge sogar sehen, dich fühlen und deine sanfte Stimme hören. Unsere tiefe Verbindung ist ganz und gar nicht weg, sie überdauert selbst den Tod. Unser starkes Band ist nicht gerissen, es ist nach wie vor da, doch nun mehr nach innen gerichtet, als nach außen. Und deine schützende Hand wird weiterhin über mich wachen, auch wenn sie mit dem Auge nicht mehr sichtbar, mit den Händen nicht mehr greifbar ist.
Als ich heute mit dem Pfarrer sprach, da sagte er: „manchmal können uns unsere Liebsten von oben mehr helfen, als sie es im Leben hätten tun können!“ Und da ich dies längst spürte, waren dies wahrlich tröstende Worte für mich, denn auf Erden wärst du weiterhin schwach, müde, von der Krankheit gepeinigt, doch oben im Himmel bist du frei von Leid, Kummer und Schmerz. Diesen großen, überirdischen Schritt zur Göttlichkeit bist du mir nun voraus.
Man sagt, wenn ein Mensch gestorben ist und die Seele den Körper verlassen hat, dauert es 40 Tage, bis die materielle Lebenskraft zerfallen ist. Der Verstorbene, sprich dessen Seele, behält in dieser Zeit die persönlichen Eigenschaften des verlassenen Körpers, sodass die äußere Gestalt und alle Familienverbindungen des irdischen Vorlebens noch erhalten bleiben. Dies erleichtert auch die Kontaktaufnahme mit den Hinterbliebenen, sofern sie es zulassen. Manch einer glaubt an diese Vorstellung, ein anderer widerrum nicht. Doch vielleicht sollten wir lernen, besser hinzusehen, besser hinzuspüren. Die Kommunikation, die Verbindung bricht dann nicht gezwungenermaßen plötzlich ab, sie verändert sich bloß und findet in einer anderen Form statt. Manchmal schicken uns unsere Lieben Antworten auf unsere Fragen – doch weniger in Worten, als vielmehr in Form von Träumen, oder gar mittels Lichtzeichen, speziellen Geräuschen und Wetterschauspielen.
Aber was passiert nach Ablauf dieser Frist? Ist dann jegliche Kontaktaufnahme nicht mehr möglich? Ein Gedanke, den ich nicht zu Ende denken möchte. Vor allem, weil ich auch den Worten des Pfarrers Glauben schenke. Und nach dem Tod ist man doch befreit von Raum und Zeit, wie kann dann diese Zeitspanne festgelegt sein? Und Liebe ist ja bekanntlich die Brücke zur Ewigkeit! Ich glaube jedenfalls fest daran, dass du immer da sein wirst, um meine Tränen zu trocknen, um mir den Weg zu zeigen, ganz gleich, wie viel Zeit vergangen ist und in welcher Dimension du dich befindest. Und ich werde fortan noch genauer hinhören, hinfühlen und lernen, deine neue Sprache zu sprechen…