Ich werfe einen Blick auf den Kalender; nur noch 40 Tage bis zum Stichtag. Der Tag, an dem sich das für mich schwierigste Ereignis erstmalig jährt. Der Tag, an dem ich SIE schweren Herzens vorausgehen lassen musste und zugleich der Tag, an dem ich selbst Mama werden soll. Ein wahrer Schicksalstag, wie ich finde. An jenem Tag im vergangenen Jahr musste ich meinen geliebten Herzensmenschen, meine Wurzeln, meinen Ursprung loslassen – wohlwissend, dass ich sie fortan nie mehr in meine Arme schließen darf. Und genau ein Jahr darauf soll ich meinen neuen Herzensmenschen erstmalig in meine Arme schließen und in der Welt begrüßen dürfen. Welch Glück! Welch Trost!
Es war im vergangenen Herbst, als ich meine Mama ein Stück auf ihrer letzten Reise begleitete. Von da an startete auch ich eine turbulente Reise ins Ungewisse. Eine Reise, die ich nicht geplant hatte und auf die ich nicht gut vorbereitet war. Eine Reise voller Herausforderungen, voller Tiefen, voller Unwetter. Ich wusste im Vorfeld nicht was mich erwarten würde und ob ich diese Reise ohne tiefe seelische Schrammen überstehen würde. Ich hatte weder einen Kompass, eine Landkarte noch Zielkoordinaten und flog – oder besser gesagt ich taumelte – verloren umher. Gerade war da noch dieses starke richtungsweisende, innige irdische Mutter-Tochter-Band, das mich stets auf all meinen Wegen begleitete. Und plötzlich wurde es mit einem tiefen, scharfen, radikalen Schnitt durchtrennt; übrig blieb ein loser Faden, der schlaff und unmotiviert in Richtung Abgrund baumelte. Es war ein Gefühl völliger Schwerelosigkeit, ohne Zeitgefühl, ohne Wegweiser, ohne jegliche Orientierung. Doch bald darauf sollte der Faden neu geknüpft werden und ein neues starkes Band entstand. Meine kleine Co-Pilotin trat unerwartet in mein Leben und machte diese Reise zu einer ganz besonderen. Nach und nach lotste sie mich heraus aus der dichten, grauen, triesten Wolkendecke, hinzu auf eine sonnige Route mit einer klaren Sicht auf eine wunderschöne, glückliche Zukunft. Eine unglaublich emotionale Reise voller schwereloser Luftlöcher und Glücksmomente.
Als ich Mama auf ihrem letzten Weg ein Stück begleitet habe, um sie schweren Herzens an den Himmel zurückzugeben, war dies der Moment, an dem ich erstmals eine neue Form von Liebe kennenlernen und spüren sollte – die selbstlose Liebe. Die selbstlose Liebe ist die stärkste und intensivste Form der Liebe und auch eine besonders schmerzhafte, die ganz tief in die Seele dringt. Sie ist uneigennützig, zum Teil aber auch unerträglich. Sie ist ungefiltert und rein, sie gibt, ohne etwas dafür haben zu wollen. Sie verlangt nicht nach einer Ausgewogenheit von Geben und Nehmen; sie entscheidet sich dafür, was das Beste ist, wenngleich es den eigenen Sehnsüchten widerspricht. Es ist jedenfalls eine Liebe, die das irdische Dasein und den Tod überdauert und die uns wachsen lässt. Ich habe aus Selbstlosigkeit und Liebe meine tiefsten Sehnsüchte und Wünsche aufgegeben und SIE gehen lassen, doch im Gegenzug dafür ein unglaubliches Geschenk vom Himmel zurückbekommen – ein Zeichen dafür, dass Glück und Unglück im Leben nicht selten Hand in Hand gehen…
Jetzt, wo ich mich im Landeanflug dieser turbulenten, ereignisreichen, emotionalen einjährigen Reise befinde und reflektierend zurückblicke, wird mir wieder bewusst: Was im Leben wirklich zählt, ist nicht, an welchem Ort man sich befindet, sei er auch noch so schön – sondern mit wem! Denn mit unseren Herzensmenschen wird selbst der dunkelste Ort oder die beschwerlichste Reise zu einer wunderschönen und aufregenden! Daher blicke ich voller Dankbarkeit und Demut hinab auf mein Bäuchlein und freue mich auf eine baldige gemeinsame Landung mit meiner Co-Pilotin. Bis dahin verbleibe ich mit einem (wie es im Pilotenfachjargon so schön heißt) „Happy Landing!“❤️